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Montag, 31. Mai 2010

Die Großstadt und Walton Fords King Kong

Bis zum 6. Juni verlängert das Berliner Ausstellungshaus Hamburger Bahnhof mit Bestiarium den ersten Blick, den ein europäisches Publikum auf die Tiermalerei-Arbeiten des einundfünfzigjährigen US-Künstlers Walton Ford werfen darf. Und was sich dem Blick da so alles bietet, ist weit mehr als die Plakate in den Ubahn-Schächten der Großstadt ankündigen. Der kleine Bildausschnitt mit der dekadenten Affenhorde an einem Festtagstisch („The Sensorium“, 2003) wirkt im Vorrübergehen doch eher altbacken, traditionell, mindestens ein Jahrhundert alt, Verfallsdatum für moderne Konsumenten: vorgestern.

Doch gleich das Begrüßungstier am Eingang korrigiert den Irrtum des ersten Eindrucks. In „Novaya Zemlya Still Life” (2006) füllt der mächtige Eisbär fast das ganze übergrößenformatige Bild, setzt seine Pranke auf einen im Schnee schon halb eingegrabenen Menschenschädel und tritt rücksichtslos über verstreute Reste menschlicher Zivilisation. Was kümmern den Bären unsere Waffen, die Kerze bzw. das Feuer, die feine Keramikvase und das gestrandete Schiff im Hintergrund? Als literarischen Bezug gibt es, wie bei allen Exponaten, ein passendes Zitat, das den Künstler inspirierte, in diesem Fall einen Extrakt eines Expeditionsberichtes vom aussichtslosen Kampf mit der Natur.

Ausgangspunkt des Eisbären ist klar erkenntlich naturkundliche Tieraquarelle des 19. Jahrhunderts von französischen und britischen Illustratoren der Kolonialzeit wie Edwin Landseer oder auch des US-amerikanischen Ornithologen und Tierzeichners John James Audubon. Diese nutzten ihre naturalistischen Darstellungen aber hin und wieder auch recht geschickt, um ihre Gesellschaftskritik an der Menschenwelt anzubringen. Ford dringt mit diesem Gedanken der tierischen Allegorie noch ein ganzes Stück tiefer, indem er Mensch und Tier eben nicht gleichsetzt, sondern durch ein komplexes Strickwerk von Anspielungen die Berührungspunkte von Wildnis und Zivilisation ebenso ausstellt, wie er ihre monumentalen Unterschiede erfahrbar macht.

Das Tier steht nicht für die schlechten, wilden Anteile des Menschen, spiegelt jedoch die Absurdität von sozialen Ritualen und erweckt durch seinen Anblick oft das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den natürlichen Gewalten. Statt altbackener, harmloser Äffchen, die ihre lustigen Mätzchen an einer Festtafel treiben, gibt es mächtige Raubkatzen, Vogelschwärme und viele andere, toughe Tiere, die die Betrachter jederzeit in Stücke reißen, überrennen oder zumindest überrumpeln zu können scheinen. In den stärksten Bildern geht es daher auch um Macht- und Überlebenskämpfe, Dominanz und Niederlage (z.B. das Motiv des vergewaltigten Leoparden in „Chingado“, 1998 - wer das Detail in der Ausstellung entdeckte, blieb länger stehen).

Was im Mainstreamfilm der Genremix ist für diesen künstlerischen Sonderling mit singulärem und daher aktuell so erfolgreichen Werk die Mischung der traditionellen Bildgattungen. Zu den genannten wirft er arrangierte Stillleben-Elemente der leblosen Dingwelt vom großen Festessen bis zum Menschenschädel - als wiederkehrendes Memento Mori, Gedenken an die Vergänglichkeit. Da wird der Affe zum Ebenbild der liegenden Venus („Jack on His Deathbed“, 2005) und damit zu einem Teil der traditionsreichen Kette der Portraitkunst. Und der Gorilla auf einer überwältigenden Bildgröße von 242,6 x 152,4 cm zu einem aufrechten und stattlichen Krieger und siegreichen Feldherren des Dschungels („An Encounter with Du Chaillu“, 2009).

Im Taschen Verlag erschienen bereits die Liebhaber-Bildbände, schöne, aber für den Alltag kaum erschwingliche Editionen. Anlässlich dazu produzierte der Verlag 2007 mit dem Youtube-Clip A Self-Portrait einen aufschlussreichen Einblick in Walton Fords chaotisches und Bücher überfrachtetes Atelier, geführt durch den Künstler selbst. Für seine Bilder verwendet er Aquarell, Gouache, Tinte, Bleistift für Bildtitel und Zitate und auf alt getrimmtes Papier („It's all just watercolour on a big sheet of paper.“).

Zahlreiche Skizzen sowie ausgedehnte Besuche im National History Museum, NY deuten bereits an, dass Ford ein Künstler ist mit einem ausgeprägten Hang zur historischen Recherche und der Freude an einer Detailgetreuen Wiedergabe von unterschiedlichen Fellbeschaffenheiten. Daraus entsteht schließlich, wie die Berliner Ausstellung eindrucksvoll unter Beweis stellt, ein großer und ganz eigenwilliger Kosmos zwischen Naturalismus und surrealen Metaphern, den ein feines, fantastisches Moment durchstreift, ohne sich jedoch im Absurden zu verlieren. Leider findet man kaum die Zeit, um die erste aufregende Irritation zu überwinden, sich in Fords Welt so richtig einzuleben und das ganze Bezügenetz zu entwirren. Dafür laufen die Uhren im Großstadtdschungel dann doch schneller als in King Kongs grünem Reich.