Seiten

Montag, 7. Juni 2010

Auf der Suche nach dem Sex im Expressionismus

„Stoff habe ich genug und übergenug, aber der dumme Kopf und die Energie fehlen,“
so Ernst Ludwig Kirchner in einem Brief an den Sammler-Freund Carl Hegemann, Anfang Juli 1917.

An einem heißen Sonntag verspricht das Städel mit seiner Ernst Ludwig Kirchner Retrospektive eine umfassende Ausstellung von 180 Werken des deutschen Expressionisten, hauptsächlich Gemälde, ein paar Drucke, Grafiken, Zeichnungen und wenige Skulpturen. Und das Haus am Frankfurter Museumsufer verspricht trotz der Aktgemälde auch Abkühlung. Eine Erfrischung im künstlerischen Ambiente suchten jedoch nur wenige, weshalb die Besucher an diesem Nachmittag ebenso ungestört durch die Räume schlendern konnten, wie die Einmannputzkolonne ihren Wischmop ungerührt vor sich herschiebend schon mal klar Schiff machte.

Ungeachtet der inneren Zerrissenheit des Künstlers, die Kurator Dr. Felix Krämer gleich im ersten Raum durch eine beachtlichen Aufreihung von wenig schmeichelhaften Selbstportraits deutlich macht, lässt sich das Leben Kirchners in überschaubare Stationen teilen, meist bedingt durch Ortswechsel. Die restlichen, chronologisch gehängten Werke erzählen von einer bewegten Biographie, offenbaren Bilder von Deutschland, die stellenweise verblüffend aktuell scheinen und fokussieren immer wieder von (nackten) Frauen.

1905 gründete der 25jährige Student in Dresden zusammen mit Kommilitonen vom Architekturstudium die Künstlervereinigung die Brücke, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Wesentliche der Dinge künstlerisch zu erfassen. Wesentlich ist schon hier vor allem der weibliche Akt, der Kirchners Werk durchgängig prägt. Viel nackte Haut doch erstaunlich wenig Erotik. Egal ob statisch in traditionellen Kunstposen oder in Bewegung, in der ganzen Ausstellung finden sich nur sehr wenige Darstellungen von Frauen mit sexueller Strahlkraft. Wesentlich, so ist es zu vermuten, sind wohl nicht Schönheit, individuelle Sexualität oder Liebeskraft. Nicht der naiv-verzückte Blick des Liebhabers betrachtet die Modelle, trotz der sexuellen Beziehungen die der Künstler zu den Damen führte, sondern eher die Ansicht eines Kritikers mit prüfender Brille oder sogar die eines erbitterten Antagonisten. Verstörend aber unter einem sensationalistischen Aspekt wieder spannend: der Hinweis auf die Mädchenakte („Marcella“, 1909-10), deren Musen z.T. bereits mit 8 Jahren in den Künstlerkreis eingeführt wurden. Hier möchte man dann aus Selbstschutz lieber kein allzu großes erotisches Moment hineinlesen.

Im goldenen Berlin, in das es den Maler 1911 mit großen Hoffnungen zog, werden die Kokotten auf den Straßen zum Ausdruck der Großstadt („Zwei Frauen auf der Straße“, 1914). Die krassen und harten Farbkontraste, die seinen expressionistischen Stil zumeist charakterisieren, sind hier entkräftet, es wirken deutlicher die klar konturierten Formen. Die spitzen und unnahbaren Gestalten der Prostituierten, mit ihrer auffälligen Mode, die sie für die Feier erkennbar machte, ragen empor wie Monumente, füllen die Wege dicht gedrängt, beäugt von unerbitterlich dreinschauenden Herren. Auch der Blickkontakt zwischen den Geschlechtern erzählt nichts von Leidenschaft, vom bald statt findenden Sex lässt Kirchner die Betrachter seiner Bilder nichts erahnen.

„Studierte Weiber sind immer unglücklich.“ Tagebuch, 17. Juli 1919

Nach psychischen Zusammenbrüchen in Kriegszeiten, mehrmaligen Sanatoriumsaufenthalten und einem Umzug nach Davos wo ländliche Szenen dominieren, widmet sich Kirchner mit seinem „neuem Stil“ wieder stark den Figuren. Skeptisch wird diese letzte Schaffensphase von der Kunstkritik aufgenommen, aufgrund der als wenig originell empfundenen Nähe zu Picasso und den zur Zeit modischen Tendenzen zur Abstraktion. Doch hier bietet die Frankfurter Ausstellung wenig beachtete Bilder, die doch durch die zunehmende Flächigkeit eine ganz eigene Farbwirkung erzielen und auch das Bild der Frau neu positionieren. Gemälde wie „Nachtfrau“ (1928-29) und „Blonde Frau in rotem Kleid; Bildnis Frau Hembus“ (1932) können als Zeugnisse von Selbstbestimmung und buntem Leben dienen. Nach den schutzlosen Nackten und den käuflichen aber unnahbaren Damen der Straße lässt der Künstler Individualität und sympathische Stärke einfließen. Nur schlafen will man mit ihnen nicht.

Aus Angst vor dem Einfall der Wehrmacht in die Schweiz und Schmerz über die Diffamierung seiner Werke in der Nazi-Hetz-Kampagnen-Ausstellung „Entartete Kunst“ beendete Ernst Ludwig Kirchner am 15. Juli 1938 sein Leben durch zwei Schüsse ins Herz. Zu chaotisch, zu negativ, zu krank schildere er die Welt, das passte nicht in die Reichspropaganda. So bleibt zu spekulieren, ob er noch einmal wirklichen Frieden mit seinen Modellen geschlossen oder ihnen noch deutlicher partnerschaftliche Positionen zugewiesen hätte wie seiner Gefährtin Erna Schilling in so manchem Doppelportrait.

Da das Städel dem Maler bereits seit 1925 verpflichtet ist, überrascht diese erste große Retrospektive seit 30 Jahren kaum - doch die Direktheit mit der die Ausstellungskonzeption beinahe unangenehm nah an diese ambivalente Künstlerpersönlichkeit heranführte schon. Zahlreiche, sehr privat anmutende Zitate Kirchners im Eingangsbereich, die Briefe und Tagebücher zitieren, kennzeichnen auch den Tonfall des Künstlers als weniger charmant eher hart und bisweilen bitter, das ist schon gar nicht sexy. So bleibt auch eine mögliche Anziehungskraft seiner Person für den Ausstellungsgänger verborgen.

Ernst Ludwig Kirchner – Retrospektive noch bis zum 25. Juli 2010 in Frankfurt am Main, Städel Museum