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Dienstag, 25. Mai 2010

Über das Unaussprechliche schreiben

Ein Geburtstagsgeschenk öffnet manchmal Türen, von deren Existenz man höchstens vage Ahnungen hatte und führt einen auf Exkursionen über den Tellerrand der eigenen kulturellen Grenzen. So ein „ungewünschtes“ Geburtstagsgeschenk schickt einen durch die Glastür des noblen Wiesbadener Staatstheaters im eleganten violetten Abendkleid und setzt einen in Reihe 10 Parkett rechts, Platz 286 – was ein guter Sitz Mitte Mitte ist. Auf dem Plan steht die Europapremiere von UNSPEAKABLE, einem chinesischen Tanztheater der als modern ausgewiesenen Tanzcompagnie BeijingDance / LDTX unter der Choreografie des gefeierten, jungen Genies Sang Jijia.

Mit oder ohne Vorbereitung auf das Folgende dämmert die Erkenntnis bereits beim Anblick des restlichen Publikums im ausverkauften Großen Haus: Hier hat man sich seinen Platz in Mitte Mitte eigentlich noch nicht erarbeitet, der ist nur geschenkt, geborgt, man ist eigentlich nur ein Kulturtourist und auch noch etwas zu jung (endlich mal wieder!). Man toleriert die Herrschaften und ihre sperrigen Regenschirme unter den Sitzen, wie sie über die genannten Fakten hinwegblicken.

Irgendwo ertönt ein akustisches Startsignal und das Licht wird in drei Stufen bis zur Dunkelheit heruntergefahren. Energiegeladene, moderne Musik setzt ein, vierzehn TänzerInnen erscheinen nach und nach bereits voll in ihren Rollen als verlorene Individuen, die verzweifelt an undurchlässigen Holzwänden klopfen, sich gegenseitig hin und her zerren und dabei keinen Moment inne halten. Die Blicke aus dem Zuschauerraum finden auch keine Ruhe, weder Augen noch Gedanken können hier etwas ausmachen, eine Ordnung oder Gesetzmäßigkeit finden, schon gar nicht sich auf Erfahrungen mit ähnlichen Erlebnissen berufen. Also folgt nach ca. 30 Sekunden das Einschwenken in die einzig richtige Überlebensstrategie: „Ich muss es nicht verstehen.“ Und schon entspannt sich alles.

Hätte das Programm nicht verraten, es handle sich um Figuren in einer Großstadtszenerie, man hätte es u.a. wegen der Projektion eines ländlichen, blauen Himmels mit rasend schnellem Wolkenvorbeiflug nicht gewusst. Aber eigentlich ist es angenehm, wenn die Stütze Verstand eingebrochen ist und nur das Gefühl bleibt, um wahrzunehmen, die Schwingungen von der Bühne aufzusaugen und sich plötzlich überwältigt fühlen zu können ohne Einschränkungen der Schaltzentrale im Kopf. Die exotischen Akteure interessieren, die Musik zwischen industriellen, metallischen Klängen und eingängigen Rhythmen bindet noch mehr an das schnelle Treiben.

Was auch nach den 75 Minuten der vielleicht modernen, aber in keiner Weise provokanten Choreografie noch lange nachhallt, ist neben dem hysterischen Lachanfall der Lieblingsakteurin der Gedanke an den Choreografen und sein Gefühl von der Großstadt. Dieses Gefühl bezeichnet er als „unaussprechlich“, weshalb er es lieber auf die Bewegung von vierzehn trainierten, chinesischen Körpern überträgt. Rastlosigkeit, Anspannung, Zusammengehörigkeit, Trennung und Einsamkeit, das alles durch den Anblick von Armen und Beinen, die zu den Klängen umher schwingen. Menschen, die sich zu Boden werfen und wieder aufrappeln, um einen Fluchtweg zu suchen. Diese Poesie der Bewegung erreichte ihr Ziel wie das verborgene Gefühl hinter den Worten eines Gedichtes. Ein wahres Geschenk.

Apropos Kulturtourismus: Verstehen Choreografen und Tänzer eigentlich Gedichte...?