Montag, 31. Mai 2010
Die Großstadt und Walton Fords King Kong
Doch gleich das Begrüßungstier am Eingang korrigiert den Irrtum des ersten Eindrucks. In „Novaya Zemlya Still Life” (2006) füllt der mächtige Eisbär fast das ganze übergrößenformatige Bild, setzt seine Pranke auf einen im Schnee schon halb eingegrabenen Menschenschädel und tritt rücksichtslos über verstreute Reste menschlicher Zivilisation. Was kümmern den Bären unsere Waffen, die Kerze bzw. das Feuer, die feine Keramikvase und das gestrandete Schiff im Hintergrund? Als literarischen Bezug gibt es, wie bei allen Exponaten, ein passendes Zitat, das den Künstler inspirierte, in diesem Fall einen Extrakt eines Expeditionsberichtes vom aussichtslosen Kampf mit der Natur.
Ausgangspunkt des Eisbären ist klar erkenntlich naturkundliche Tieraquarelle des 19. Jahrhunderts von französischen und britischen Illustratoren der Kolonialzeit wie Edwin Landseer oder auch des US-amerikanischen Ornithologen und Tierzeichners John James Audubon. Diese nutzten ihre naturalistischen Darstellungen aber hin und wieder auch recht geschickt, um ihre Gesellschaftskritik an der Menschenwelt anzubringen. Ford dringt mit diesem Gedanken der tierischen Allegorie noch ein ganzes Stück tiefer, indem er Mensch und Tier eben nicht gleichsetzt, sondern durch ein komplexes Strickwerk von Anspielungen die Berührungspunkte von Wildnis und Zivilisation ebenso ausstellt, wie er ihre monumentalen Unterschiede erfahrbar macht.
Das Tier steht nicht für die schlechten, wilden Anteile des Menschen, spiegelt jedoch die Absurdität von sozialen Ritualen und erweckt durch seinen Anblick oft das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den natürlichen Gewalten. Statt altbackener, harmloser Äffchen, die ihre lustigen Mätzchen an einer Festtafel treiben, gibt es mächtige Raubkatzen, Vogelschwärme und viele andere, toughe Tiere, die die Betrachter jederzeit in Stücke reißen, überrennen oder zumindest überrumpeln zu können scheinen. In den stärksten Bildern geht es daher auch um Macht- und Überlebenskämpfe, Dominanz und Niederlage (z.B. das Motiv des vergewaltigten Leoparden in „Chingado“, 1998 - wer das Detail in der Ausstellung entdeckte, blieb länger stehen).
Was im Mainstreamfilm der Genremix ist für diesen künstlerischen Sonderling mit singulärem und daher aktuell so erfolgreichen Werk die Mischung der traditionellen Bildgattungen. Zu den genannten wirft er arrangierte Stillleben-Elemente der leblosen Dingwelt vom großen Festessen bis zum Menschenschädel - als wiederkehrendes Memento Mori, Gedenken an die Vergänglichkeit. Da wird der Affe zum Ebenbild der liegenden Venus („Jack on His Deathbed“, 2005) und damit zu einem Teil der traditionsreichen Kette der Portraitkunst. Und der Gorilla auf einer überwältigenden Bildgröße von 242,6 x 152,4 cm zu einem aufrechten und stattlichen Krieger und siegreichen Feldherren des Dschungels („An Encounter with Du Chaillu“, 2009).
Im Taschen Verlag erschienen bereits die Liebhaber-Bildbände, schöne, aber für den Alltag kaum erschwingliche Editionen. Anlässlich dazu produzierte der Verlag 2007 mit dem Youtube-Clip A Self-Portrait einen aufschlussreichen Einblick in Walton Fords chaotisches und Bücher überfrachtetes Atelier, geführt durch den Künstler selbst. Für seine Bilder verwendet er Aquarell, Gouache, Tinte, Bleistift für Bildtitel und Zitate und auf alt getrimmtes Papier („It's all just watercolour on a big sheet of paper.“).
Zahlreiche Skizzen sowie ausgedehnte Besuche im National History Museum, NY deuten bereits an, dass Ford ein Künstler ist mit einem ausgeprägten Hang zur historischen Recherche und der Freude an einer Detailgetreuen Wiedergabe von unterschiedlichen Fellbeschaffenheiten. Daraus entsteht schließlich, wie die Berliner Ausstellung eindrucksvoll unter Beweis stellt, ein großer und ganz eigenwilliger Kosmos zwischen Naturalismus und surrealen Metaphern, den ein feines, fantastisches Moment durchstreift, ohne sich jedoch im Absurden zu verlieren. Leider findet man kaum die Zeit, um die erste aufregende Irritation zu überwinden, sich in Fords Welt so richtig einzuleben und das ganze Bezügenetz zu entwirren. Dafür laufen die Uhren im Großstadtdschungel dann doch schneller als in King Kongs grünem Reich.
Samstag, 29. Mai 2010
Mittwoch, 26. Mai 2010
Dienstag, 25. Mai 2010
Über das Unaussprechliche schreiben
Mit oder ohne Vorbereitung auf das Folgende dämmert die Erkenntnis bereits beim Anblick des restlichen Publikums im ausverkauften Großen Haus: Hier hat man sich seinen Platz in Mitte Mitte eigentlich noch nicht erarbeitet, der ist nur geschenkt, geborgt, man ist eigentlich nur ein Kulturtourist und auch noch etwas zu jung (endlich mal wieder!). Man toleriert die Herrschaften und ihre sperrigen Regenschirme unter den Sitzen, wie sie über die genannten Fakten hinwegblicken.
Irgendwo ertönt ein akustisches Startsignal und das Licht wird in drei Stufen bis zur Dunkelheit heruntergefahren. Energiegeladene, moderne Musik setzt ein, vierzehn TänzerInnen erscheinen nach und nach bereits voll in ihren Rollen als verlorene Individuen, die verzweifelt an undurchlässigen Holzwänden klopfen, sich gegenseitig hin und her zerren und dabei keinen Moment inne halten. Die Blicke aus dem Zuschauerraum finden auch keine Ruhe, weder Augen noch Gedanken können hier etwas ausmachen, eine Ordnung oder Gesetzmäßigkeit finden, schon gar nicht sich auf Erfahrungen mit ähnlichen Erlebnissen berufen. Also folgt nach ca. 30 Sekunden das Einschwenken in die einzig richtige Überlebensstrategie: „Ich muss es nicht verstehen.“ Und schon entspannt sich alles.
Hätte das Programm nicht verraten, es handle sich um Figuren in einer Großstadtszenerie, man hätte es u.a. wegen der Projektion eines ländlichen, blauen Himmels mit rasend schnellem Wolkenvorbeiflug nicht gewusst. Aber eigentlich ist es angenehm, wenn die Stütze Verstand eingebrochen ist und nur das Gefühl bleibt, um wahrzunehmen, die Schwingungen von der Bühne aufzusaugen und sich plötzlich überwältigt fühlen zu können ohne Einschränkungen der Schaltzentrale im Kopf. Die exotischen Akteure interessieren, die Musik zwischen industriellen, metallischen Klängen und eingängigen Rhythmen bindet noch mehr an das schnelle Treiben.
Was auch nach den 75 Minuten der vielleicht modernen, aber in keiner Weise provokanten Choreografie noch lange nachhallt, ist neben dem hysterischen Lachanfall der Lieblingsakteurin der Gedanke an den Choreografen und sein Gefühl von der Großstadt. Dieses Gefühl bezeichnet er als „unaussprechlich“, weshalb er es lieber auf die Bewegung von vierzehn trainierten, chinesischen Körpern überträgt. Rastlosigkeit, Anspannung, Zusammengehörigkeit, Trennung und Einsamkeit, das alles durch den Anblick von Armen und Beinen, die zu den Klängen umher schwingen. Menschen, die sich zu Boden werfen und wieder aufrappeln, um einen Fluchtweg zu suchen. Diese Poesie der Bewegung erreichte ihr Ziel wie das verborgene Gefühl hinter den Worten eines Gedichtes. Ein wahres Geschenk.
Apropos Kulturtourismus: Verstehen Choreografen und Tänzer eigentlich Gedichte...?